Heiligabend… (d/e)


Heiligabend

 

In den Straßen der kleinen Kreisstadt war es ruhig geworden. Hellerleuchtete Schaufenster mit greller, aufdringlicher Leuchtreklame blendeten erbarmungslos meine Augen. Das Weihnachtsgeschäft, das Geschäft des Jahres, war an diesem `Heiligabend´ gelaufen.

Die Gläubigen eilten nach dem obligatorischen Kirchgang zurück in die Behaglichkeit, in die Wärme und Geborgenheit ihrer festlich geschmückten Wohnungen. Es war Weihnacht.

Langsam schlenderte ich an den Schaufenstern vorüber.

Auf der anderen Straßenseite stand ein alter Mann vor einem Schaufenster.

Er schien völlig geistesabwesend zu sein. Ich blieb stehen und sah zu ihm hinüber. Ein   eiskalter Wind zerrte an meinem Gesicht.

Ich schlug den Kragen meines Mantels auf und ging hinüber.

Er stand mit gesenktem Kopf vor dem Schaufenster eines Spielwarengeschäftes, die rechte Hand vor die Stirn gepresst. Ich sah unauffällig zu Ihm hinüber. Er schien mich nicht zu bemerken. Warum ging ich nicht weiter ?

Wie all die Anderen ?

Er weinte.

„Kann ich Ihnen helfen?“

„Mir kann niemand helfen!“

„Ja .. aber …“

„Lassen Sie mich in Ruhe! Was wollen Sie von mir?“

„Pardon. Ich will Sie nicht belästigen. Entschuldigung.“

Ich drehte mich um und wollte gehen.

„Warten Sie!“

Ich blieb stehen.

Der alte Mann stand immer noch so da – wie vor einer Minute.

„Warum kümmern Sie sich um mich? Sie kennen mich doch gar nicht!“

Ich schwieg eine Weile.

„ Ja .. da haben Sie recht. Ich kenne Sie nicht …“

Er nahm die Hand von der Stirn, hob langsam den Kopf und sah mich an. Sein vergrämter, zerflossener Blick traf mich wie ein Messer. Ich hatte das Gefühl, als suchte er jemanden .. irgendjemanden, mit dem er reden konnte. Einen Menschen, der ihm zuhörte, mehr nicht.

„Was bedrückt Sie?“

„Ach .. junger Mann …“ Er sah wieder auf den Boden.

„Dieser Abend soll für uns Menschen ein Abend des Glücks und der Zufriedenheit sein… Für

mich ist er Verzweiflung. Ich musste `raus. Ich hielt es zuhause nicht mehr aus.“

„Was ist passiert?“

Er begann wieder zu weinen.

In den Häusern wurde das Fest der Freude und der Zufriedenheit gefeiert. Jeder auf seine Weise. Was war geschehen, dass dieser alte Mann weinend vor einem Schaufenster stand? Was hatte ihn so zerschmettert?

„Ich hatte den Tannenbaum geschmückt, die Kerzen  angezündet und  meine Tochter und meinen Schwiegersohn erwartet. Gott sei Dank, dass meine Frau das nicht mehr erleben muss!  Ich hatte mich darauf gefreut, mit ihnen diesen Abend zu verbringen. Ich wollte heute nicht allein sein. Ich wollte es nicht… !“

„Und was geschah? Sie sind nicht gekommen?“

„Doch! Verflucht, sie sind gekommen. Mein Schwiegersohn war betrunken. Als er den Baum sah, begann er entsetzlich zu lachen. Er nannte ihn… ich mag es nicht sagen. Er sagte nur, dass er diesen `Blödsinn´ nicht mitmacht. Schließlich löschte er die Kerzen aus und knickte den Stamm in der Mitte ab. Meinen liebevoll geschmückten … Dann hab´ ich ihn hinausgeworfen.“

„Was sagte Ihre Tochter dazu?“

„Die ist mit ihm gegangen. Ja.. sie ist einfach mit ihm gegangen. Kein Wort….nichts!“

„Wollen Sie nicht nach Hause gehen?“

„Ja .. später…“

„Er war betrunken, sagten Sie?“

„Ja.“

„Dann wird er sich sicherlich morgen entschuldigen.“

„Ja, sicherlich…  Ich  wollte  ihnen  doch nur eine Freunde machen“, sagte er dumpf, und ich hatte das Gefühl, nicht mehr wahrgenommen zu werden. Er schüttelte nur langsam, wieder völlig abwesend den Kopf. „Ich wollte ihnen doch nur eine Freunde machen…“

An diesem Heiligabend stand der alte Mann vor dem Schaufenster eines Spielwarengeschäftes. Die schneidende Kälte dieser Weihnacht und das zerreißende Gefühl des Alleinseins waren seine  gnadenlosen Begleiter in einer Nacht der Liebe, der Zusammengehörigkeit, des Vergebens und der Wärme. Der bloße, niederwerfende Gedanke daran und die Hoffnung auf eine Entschuldigung waren alles, was der alte Mann noch hatte.   –

©Joachim Rohlfing

 

in English

Christmas Eve

It had become quiet in the streets of the small district town. Brightly lit shop windows with glaring, obtrusive illuminated advertising mercilessly dazzled my eyes. The Christmas business, the business of the year, had been running on this ‚Christmas Eve‘.

After the obligatory church visit, the faithful hurried back to the comfort, warmth and security of their festively decorated homes. It was Christmas.

Slowly I strolled past the shop windows.

Across the street an old man stood in front of a shop window.

He seemed to be completely absent-minded. I stopped and looked over at him. An icy cold wind tore at my face.

I unbuttoned the collar of my coat and went over.

He stood with his head lowered in front of the window of a toy store, his right hand pressed against his forehead. I looked over at him without attracting attention. He did not seem to notice me. Why didn’t I go on ?

Like all the others?

He was crying.

„Can I help you?“

„Nobody can help me!“

„Yeah, but…

„Leave me alone! What do you want from me?“

„Sorry. I don’t mean to bother you. I’m sorry.“

I turned around and wanted to leave.

„Wait!“

I stopped.

The old man was still standing there – just like a minute ago.

„Why do you care about me? You don’t even know me!“

I held my peace for a while.

„Yes, you’re right. I don’t know you…“

He took his hand off his forehead, slowly raised his head and looked at me. His pitiful, melted look hit me like a knife. I felt as if he was looking for someone, anyone to talk to. Someone to listen to him, nothing more.

„What’s on your mind?

„Oh, young man…“ He looked down again.

„Let this evening be for us humans an evening of happiness and contentment… For

but for me he’s desperate. I had to get out. I couldn’t stand it at home anymore.“

„What happened?“

He started crying again.

In the houses the feast of joy and satisfaction was celebrated. Each in his own way. What had happened that made this old man stand crying in front of a shop window? What had so shattered him?

„I had decorated the Christmas tree, lit the candles and waited for my daughter and son-in-law. Thank God that my wife doesn’t have to live to see this!  I had been looking forward to spending this evening with them. I didn’t want to be alone today. I didn’t want… !“

„And what happened? You didn’t come?“

„Yes, they did! Damn it, they came. My son-in-law was drunk. When he saw the tree, he started to laugh horribly. He called it… I don’t like to say it. He just said that he wouldn’t go along with this ’nonsense‘. Finally he put out the candles and bent the trunk in the middle. My lovingly decorated… Then I threw him out.“

„What did your daughter say?“

„She left with him. Yeah, she just left with him. Not a word… nothing!“

„Don’t you want to go home?“

„Yes, later…“

„He was drunk, you said?“

„Yes.“

„Then he’ll surely apologize tomorrow.“

„Yes, certainly…  I just wanted to make them friends,“ he said muffledly, and I had the feeling that I was no longer noticed. He shook his head slowly, completely absent again. „I just wanted to make friends…“

That Christmas Eve, the old man stood in front of the window of a toy store. The biting cold of this Christmas and the tearing feeling of being alone were his merciless companions in a night of love, togetherness, forgiveness and warmth. The mere prostrate thought of it and the hope of an apology were all the old man had left.   –

©Joachim Rohlfing

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